The Project Gutenberg EBook of Die Inzestscheu, by Sigmund Freud This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.net Title: Die Inzestscheu Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker I Author: Sigmund Freud Release Date: August 13, 2011 [EBook #37066] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE INZESTSCHEU *** Produced by Jana Srna and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription:
Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften I (1912). S. 17–33.
Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Änderungen sind im Text so gekennzeichnet. Der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.
Einleitung.
Von allem Anfang an hat die psychoanalytische Forschung auf Ähnlichkeiten und Analogien ihrer Ergebnisse am Seelenleben des Einzelwesens mit solchen der Völkerpsychologie hingewiesen. Es geschah dies, wie begreiflich, zuerst nur schüchtern, in bescheidenem Umfange und ging nicht über das Gebiet der Märchen und Mythen hinaus. Die Absicht solchen Ausgreifens war keine andere als die, ihren an sich recht unwahrscheinlichen Resultaten durch solche unerwartete Übereinstimmungen Glaubwürdigkeit zu schaffen.
In den seither verflossenen anderthalb Jahrzehnten hat die Psychoanalyse aber Zutrauen zu ihrer Arbeit gewonnen; die nicht unansehnliche Schar von Forschern, die der Anregung eines einzelnen gefolgt sind, hat es zu einer befriedigenden Übereinstimmung in ihren Anschauungen gebracht, und nun scheint der Zeitpunkt günstig, um der über die Individualpsychologie hinausgreifenden Arbeit ein neues Ziel zu setzen. Es sollen nicht nur ähnliche Vorkommnisse und Zusammenhänge im Seelenleben der Völker aufgespürt werden, wie sie durch die Psychoanalyse beim Individuum ans Licht gezogen wurden, sondern auch der Versuch gewagt werden, was in der Völkerpsychologie dunkel oder zweifelhaft geblieben ist, durch die Einsichten der Psychoanalyse aufzuhellen. Die junge psychoanalytische Wissenschaft will gleichsam zurückerstatten, was sie in ihren Anfängen anderen Wissensgebieten zu danken hatte, und hofft, mehr wiedergeben zu können, als sie seinerzeit empfing.
Eine Schwierigkeit des Unternehmens liegt in der Qualifikation der Männer, welche sich dieser neuen Aufgabe unterziehen. Es wäre vergeblich zu warten, bis die Mythenforscher, Religionspsychologen, Ethnologen, Linguisten usw. den Anfang machen, psychoanalytische Denkweisen auf ihr eignes Material anzuwenden. Die ersten Schritte in all diesen Richtungen müssen durchaus von jenen unternommen werden, die sich bisher als Psychiater oder Traumforscher in den Besitz der psychoanalytischen Technik und ihrer Ergebnisse gesetzt haben. Solche sind aber zunächst Laien auf anderen Wissensgebieten, und wenn sie mühselig einige Kenntnis darin erworben haben, Dilettanten oder im besten Falle Autodidakten. Ihre Leistungen werden Schwächen und Fehler nicht vermeiden können, welche der zünftige Forscher, der Fachmann, mit seiner Beherrschung des Materials und seiner Übung, es zu handhaben, leicht entdecken und vielleicht mit überlegenem Spott verfolgen wird. Möge er in Erwägung ziehen, daß unsere Arbeiten ja nichts anderes bezwecken, als ihm die Anregung zu bringen, daß er selbst es besser mache, indem er an den ihm vertrauten Stoff das Instrument versucht, welches wir ihm leihen können.
Für die nachstehende kleine Arbeit muß ich aber noch eine andere Entschuldigung geltend machen, als daß sie den ersten Schritt des Autors bedeutet auf einem ihm bisher fremden Boden. Es kommt noch hinzu, daß sie infolge verschiedener äußerlicher Antriebe vorzeitig an das Licht der Öffentlichkeit gedrängt wurde, nach weit kürzerer Inkubationszeit als des Autors sonstige Mitteilungen, lange ehe ihm ermöglicht war, die reichhaltige Literatur des Gegenstandes durchzuarbeiten. Wenn ich trotzdem diese Veröffentlichung nicht aufgeschoben habe, so beschwichtigt mich die Erwägung, daß erste Arbeiten ohnedies meist darin fehlen, daß sie zuviel umfassen wollen und eine Vollständigkeit der Lösung anstreben, die, wie spätere Studien zeigen, fast niemals im ersten Anlauf zu erreichen ist. Es schadet also wenig, wenn man sich mit Absicht und Wissen auf eine kleine Probe beschränkt. Außerdem befindet sich der Autor in der Situation des Knaben, der im Walde ein Nest von köstlichen Beeren und guten Pilzen gefunden hat und nun den Gefährten ruft, ehe er selbst alle gepflückt hat, weil er sieht, daß er allein nicht imstande ist, die Fülle zu bewältigen.
Parallele der ontogenetischen und der phylogenetischen Entwicklung des Seelenlebens.
Für jeden an der Entwicklung der psychoanalytischen Forschung Beteiligten war es ein denkwürdiger Moment, als C. G. Jung auf einer privaten wissenschaftlichen Zusammenkunft durch einen seiner Schüler mitteilen ließ, daß die Phantasiebildungen gewisser Geisteskranker (Dementia praecox) in auffälligster Weise mit den mythologischen Kosmogenien alter Völker zusammenstimmten, von denen die ungebildeten Kranken eine wissenschaftliche Kunde unmöglich erhalten hatten(1). Es war hiemit nicht nur auf eine neue Ursprungsquelle der sonderbarsten psychischen Krankheitsproduktionen hingewiesen, sondern auch in nachdrücklichster Weise die Bedeutung des Parallelismus zwischen ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung auch für das Seelenleben betont. Der Geisteskranke und der Neurotiker rücken somit in die Nähe des Primitiven, des Menschen entlegener Vorzeit, und wenn die Voraussetzungen der Psychoanalyse richtig sind, muß, was ihnen gemeinsam ist, auf den Typus des kindlichen Seelenlebens zurückführbar sein.
Bedeutung der wilden Völker für die Psychologie.
Den Menschen der Vorzeit kennen wir in den Entwicklungsstadien, die er durchlaufen hat, durch die unbelebten Denkmäler und Geräte, die er uns hinterlassen, durch die Kunde von seiner Kunst, seiner Religion und Lebensanschauung, die wir entweder direkt oder auf dem Wege der Tradition in Sagen, Mythen und Märchen erhalten haben, durch die Überreste seiner Denkweisen in unseren eigenen Sitten und Gebräuchen. Außerdem aber ist er noch in gewissem Sinne unser Zeitgenosse; es leben Menschen, von denen wir glauben, daß sie den Primitiven noch sehr nahe stehen, viel näher als wir, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten wilden und halbwilden Völker, deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen.
Wenn diese Voraussetzung zutreffend ist, so wird eine Vergleichung der »Psychologie der Naturvölker«, wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt worden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen, und wird uns gestatten, bereits Bekanntes hier und dort in neuem Lichte zu sehen.
Aus äußeren wie aus inneren Gründen wähle ich für diese Vergleichung jene Völkerstämme, die von den Ethnographen als die zurückgebliebensten, armseligsten Wilden beschrieben worden sind, die Ureinwohner des jüngsten Kontinents, Australien, der uns auch in seiner Fauna soviel Archaisches, anderswo Untergegangenes, bewahrt hat.
Die Australier als Beispiel eines wilden Volksstammes.
Die Ureinwohner Australiens werden als eine besondere Rasse betrachtet, die weder physisch noch sprachlich Verwandtschaft mit ihren nächsten Nachbarn, den melanesischen, polynesischen und malaiischen Völkern erkennen läßt. Sie bauen weder Häuser noch feste Hütten, bearbeiten den Boden nicht, halten keine Haustiere bis auf den Hund, kennen nicht einmal die Kunst der Töpferei. Sie nähren sich ausschließlich von dem Fleische aller möglichen Tiere, die sie erlegen, und von Wurzeln, die sie graben. Könige oder Häuptlinge sind bei ihnen unbekannt, die Versammlung der gereiften Männer entscheidet über die gemeinsamen Angelegenheiten. Es ist durchaus zweifelhaft, ob man ihnen Spuren von Religion in Form der Verehrung höherer Wesen zugestehen darf. Die Stämme im Innern des Kontinents, die infolge von Wasserarmut mit den härtesten Lebensbedingungen zu ringen haben, scheinen in allen Stücken primitiver zu sein als die der Küste nahewohnenden.
Von diesen armen nackten Kannibalen werden wir gewiß nicht erwarten, daß sie im Geschlechtsleben in unserem Sinne sittlich seien, ihren sexuellen Trieben ein hohes Maß von Beschränkung auferlegt haben. Und doch erfahren wir, daß sie sich mit ausgesuchtester Sorgfalt und peinlichster Strenge die Verhütung inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziel gesetzt haben. Ja ihre gesamte soziale Organisation scheint dieser Absicht zu dienen oder mit ihrer Erreichung in Beziehung gebracht worden zu sein.
Der Totemismus.
An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen findet sich bei den Australiern das System des Totemismus. Die australischen Stämme zerfallen in kleinere Sippen oder Clans, von denen sich jeder nach seinem Totem benennt. Was ist nun der Totem? In der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet, und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont. Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung. Von Zeit zu Zeit werden Feste gefeiert, an denen die Totemgenossen in zeremoniösen Tänzen die Bewegungen und Eigenheiten ihres Totem darstellen oder nachahmen.
Der Totem ist entweder in mütterlicher oder in väterlicher Linie erblich; die erstere Art ist möglicherweise überall die ursprüngliche und erst später durch die letztere abgelöst worden. Die Zugehörigkeit zum Totem ist die Grundlage aller sozialen Verpflichtungen des Australiers, setzt sich einerseits über die Stammesangehörigkeit hinaus, und drängt anderseits die Blutsverwandtschaft zurück(2).
An Boden und Örtlichkeit ist der Totem nicht gebunden; die Totemgenossen wohnen von einander getrennt und mit den Anhängern anderer Totem friedlich beisammen(3).
Die Exogamie.
Und nun müssen wir endlich jener Eigentümlichkeit des totemistischen Systems gedenken, wegen welcher auch das Interesse des Psychoanalytikers sich ihm zuwendet. Fast überall, wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zu einander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie.
Dieses streng gehandhabte Verbot ist sehr merkwürdig. Es wird durch nichts vorbereitet, was wir vom Begriff oder den Eigenschaften des Totem bisher erfahren haben, man versteht also nicht, wie es in das System des Totemismus hineingeraten ist. Wir verwundern uns darum nicht, wenn manche Forscher geradezu annehmen, die Exogamie habe ursprünglich – im Beginn der Zeiten und dem Sinne nach – nichts mit dem Totemismus zu tun, sondern sei ihm irgend einmal, als sich Heiratsbeschränkungen notwendig erwiesen, ohne tieferen Zusammenhang angefügt worden. Wie immer dem sein mag, die Vereinigung von Totemismus und Exogamie besteht und erweist sich als eine sehr feste.
Machen wir uns die Bedeutung dieses Verbots durch weitere Erörterungen klar.
a) Die Uebertretung dieses Verbotes wird nicht einer sozusagen automatisch eintretenden Bestrafung der Schuldigen überlassen wie bei den anderen Totemverboten (z. B. das Totemtier nicht zu töten), sondern wird vom ganzen Stamme aufs energischeste geahndet, als gelte es, eine die ganze Gemeinschaft bedrohende Gefahr oder eine sie bedrückende Schuld abzuwehren. Einige Sätze aus dem Buch von Frazer(4) mögen zeigen, wie ernst solche Verfehlungen von diesen, nach unserem Maßstabe sonst recht unsittlichen Wilden behandelt werden.
»In Australia the regular penalty for sexual intercourse with a person of a forbidden clan is death. It matters not whether the woman be of the same local group or has been captured in war from another tribe; a man of the wrong clan who uses her as his wife is hunted down and killed by his clansmen, and so is the woman; though in some cases, if they succeed in eluding capture for a certain time, the offence may be condoned. In the Ta-Ta-thi tribe, New South Wales, in the rare cases which occur, the man is killed but the woman is only beaten or speared, or both, till she is nearly dead; the reason given for not actually killing her being that she was probably coerced. Even in casual amours the clan prohibitions are strictly observed, any violations of these prohibitions are regarded with the utmost abhorrence and are punished by death (Howitt).«
b) Da dieselbe harte Bestrafung auch gegen flüchtige Liebschaften geübt wird, die nicht zur Kindererzeugung geführt haben, so werden andere, z. B. praktische Motive des Verbotes unwahrscheinlich.
c) Da der Totem hereditär ist und durch die Heirat nicht verändert wird, so lassen sich die Folgen des Verbotes etwa bei mütterlicher Erblichkeit leicht übersehen. Gehört der Mann z. B. einem Clan mit dem Totem Känguruh an und heiratet eine Frau vom Totem Emu, so sind die Kinder, Knaben und Mädchen, alle Emu. Einem Sohne dieser Ehe wird also durch die Totemregel der inzestuöse Verkehr mit seiner Mutter und seinen Schwestern, die Emu sind wie er, unmöglich gemacht(5).
d) Es bedarf aber nur einer Mahnung, um einzusehen, daß die mit dem Totem verbundene Exogamie mehr leistet, also mehr bezweckt, als die Verhütung des Inzests mit Mutter und Schwestern. Sie macht dem Manne auch die sexuelle Vereinigung mit allen Frauen seiner eigenen Sippe unmöglich, also mit einer Anzahl von weiblichen Personen, die ihm nicht blutsverwandt sind, indem sie alle diese Frauen wie Blutsverwandte behandelt. Die psychologische Berechtigung dieser großartigen Einschränkung, die weit über alles hinausgeht, was sich ihr bei zivilisierten Völkern an die Seite stellen läßt, ist zunächst nicht ersichtlich. Man glaubt nur zu verstehen, daß die Rolle des Totem (Tieres) als Ahnherrn dabei sehr ernst genommen wird. Alles, was von dem gleichen Totem abstammt, ist blutsverwandt, ist eine Familie, und in dieser Familie werden die entferntesten Verwandtschaftsgrade als absolutes Hindernis der sexuellen Vereinigung anerkannt.
So zeigen uns denn diese Wilden einen ungewohnt hohen Grad von Inzestscheu oder Inzestempfindlichkeit, verbunden mit der von uns nicht gut verstandenen Eigentümlichkeit, daß sie die reale Blutsverwandtschaft durch die Totemverwandtschaft ersetzen. Wir dürfen indes diesen Gegensatz nicht allzusehr übertreiben und wollen im Gedächtnis behalten, daß die Totemverbote den realen Inzest als Spezialfall miteinschließen.
Auf welche Weise es dabei zum Ersatz der wirklichen Familie durch die Totemsippe gekommen, bleibt ein Rätsel, dessen Lösung vielleicht mit der Aufklärung des Totem selbst zusammenfällt. Man müßte freilich daran denken, daß bei einer gewissen, über die Eheschranken hinausgehenden Freiheit des Sexualverkehrs die Blutsverwandtschaft und somit die Inzestverhütung so unsicher werden, daß man eine andere Fundierung des Verbots nicht entbehren kann. Es ist darum nicht überflüssig zu bemerken, daß die Sitten der Australier soziale Bedingungen und festliche Gelegenheiten anerkennen, bei denen das ausschließliche Eheanrecht eines Mannes auf ein Weib durchbrochen wird.
Die klassifizierenden Verwandtschafts-Namen.
Der Sprachgebrauch dieser australischen Stämme(6) weist eine Eigentümlichkeit auf, welche unzweifelhaft in diesen Zusammenhang gehört. Die Verwandtschaftsbezeichnungen nämlich, deren sie sich bedienen, fassen nicht die Beziehung zwischen zwei Individuen, sondern zwischen einem Individuum und einer Gruppe ins Auge; sie gehören nach dem Ausdrucke L. H. Morgan's dem »Klassifizierenden« System an. Das will heissen, ein Mann nennt »Vater« nicht nur seinen Erzeuger, sondern auch jeden anderen Mann, der nach den Stammessatzungen seine Mutter hätte heiraten und so sein Vater hätte werden können; er nennt »Mutter« jede andere Frau neben seiner Gebärerin, die ohne Verletzung der Stammesgesetze seine Mutter hätte werden können; er heißt »Brüder«, »Schwestern« nicht nur die Kinder seiner wirklichen Eltern, sondern auch die Kinder all der genannten Personen, die in der elterlichen Gruppenbeziehung zu ihm stehen usw. Die Verwandtschaftsnamen, die zwei Australier einander geben, deuten also nicht notwendig auf eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen hin, wie sie es nach unserem Sprachgebrauche müßten; sie bezeichnen vielmehr soziale als physische Beziehungen. Eine Annäherung an dieses klassifikatorische System findet sich bei uns etwa in der Kinderstube, wenn das Kind veranlaßt wird, jeden Freund und jede Freundin der Eltern als »Onkel« und »Tante« zu begrüßen, oder im übertragenen Sinn, wenn wir von »Brüdern in Apoll«, »Schwestern in Christo« sprechen.
Die Gruppenehe.
Die Erklärung dieses für uns so sehr befremdenden Sprachgebrauchs ergibt sich leicht, wenn man ihn als Rest und Anzeichen jener Heiratsinstitution auffaßt, die der Rev. L. Fison »Gruppenehe« genannt hat, deren Wesen darin besteht, dass eine gewisse Anzahl von Männern eheliche Rechte über eine gewisse Anzahl von Frauen ausübt. Die Kinder dieser Gruppenehe würden dann mit Recht einander als Geschwister betrachten, obwohl sie nicht alle von derselben Mutter geboren sind, und alle Männer der Gruppe für ihre Väter halten.
Obwohl manche Autoren, wie z. B. Westermarck in seiner »Geschichte der menschlichen Ehe(7)«, sich den Folgerungen widersetzen, welche andere aus der Existenz der Gruppenverwandtschaftsnamen gezogen haben, so stimmen doch gerade die besten Kenner der australischen Wilden darin überein, dass die klassifikatorischen Verwandtschaftsnamen als Ueberrest aus Zeiten der Gruppenehe zu betrachten sind. Ja, nach Spencer und Gillen(8) läßt sich eine gewisse Form der Gruppenehe bei den Stämmen der Urabunna und der Dieri noch als heute bestehend feststellen. Die Gruppenehe sei also bei diesen Völkern der individuellen Ehe vorausgegangen und nicht geschwunden, ohne deutliche Spuren in Sprache und Sitten zurückzulassen.
Der Gruppeninzest.
Ersetzen wir aber die individuelle Ehe durch die Gruppenehe, so wird uns das scheinbare Uebermaß von Inzestvermeidung, welches wir bei denselben Völkern angetroffen haben, begreiflich. Die Totemexogamie, das Verbot des sexuellen Verkehrs zwischen Mitgliedern desselben Clans, erscheint als das angemessene Mittel zur Verhütung des Gruppeninzests, welches dann fixiert wurde und seine Motivierung um lange Zeiten überdauert hat.
Die Heiratsklassen (Phrathrien).
Glauben wir so, die Heiratsbeschränkungen der Wilden Australiens in ihrer Motivierung verstanden zu haben, so müssen wir noch erfahren, daß die wirklichen Verhältnisse eine weit größere, auf den ersten Anblick verwirrende, Kompliziertheit erkennen lassen. Es gibt nämlich nur wenige Stämme in Australien, die kein anderes Verbot als die Totemschranke zeigen. Die meisten sind derart organisiert, daß sie zunächst in zwei Abteilungen zerfallen, die man Heiratsklassen (englisch: Phrathry) genannt hat. Jede dieser Heiratsklassen ist exogam und schließt eine Mehrzahl von Totemsippen ein. Gewöhnlich teilt sich noch jede Heiratsklasse in zwei Unterklassen (Subphrathries), der ganze Stamm also in vier; die Unterklassen stehen so zwischen den Phrathrien und den Totemsippen.
Das typische, recht häufig verwirklichte Schema der Organisation eines australischen Stammes sieht also folgendermaßen aus:
Die zwölf Totemsippen sind in vier Unterklassen und zwei Klassen untergebracht. Alle Abteilungen sind exogam(9). Die Subklasse c) bildet mit e), die Subklasse d) mit f) eine exogame Einheit. Der Erfolg, also die Tendenz, dieser Einrichtungen ist nicht zweifelhaft; es wird auf diesem Wege eine weitere Einschränkung der Heiratswahl und der sexuellen Freiheit herbeigeführt. Bestünden nur die zwölf Totemsippen, so wäre jedem Mitglied einer Sippe – bei Voraussetzung der gleichen Menschenanzahl in jeder Sippe – 11/12 aller Frauen des Stammes zur Auswahl zugänglich. Die Existenz der beiden Phrathrien beschränkt diese Anzahl auf 6/12 = 1/2; ein Mann vom Totem α) kann nur eine Frau der Sippen 1 bis 6 heiraten. Bei Einführung der beiden Unterklassen sinkt die Auswahl auf 3/12 = 1/4; ein Mann vom Totem α) muß seine Ehewahl auf die Frauen der Totem 4, 5, 6 beschränken.
Beziehungen zwischen Totem und Heiratsklassen.
Die historischen Beziehungen der Heiratsklassen – deren bei einigen Stämmen bis zu acht vorkommen – zu den Totemsippen sind durchaus ungeklärt. Man sieht nur, daß diese Einrichtungen dasselbe erreichen wollen wie die Totemexogamie, und auch noch mehr anstreben. Aber während die Totemexogamie den Eindruck einer heiligen Satzung macht, die entstanden ist, man weiß nicht wie, also einer Sitte, scheinen die komplizierten Institutionen der Heiratsklassen, ihrer Unterteilungen und der daran geknüpften Bedingungen zielbewußter Gesetzgebung zu entstammen, die vielleicht die Aufgabe der Inzestverhütung neu aufnahm, weil der Einfluß des Totem im Nachlassen war. Und während das Totemsystem, wie wir wissen, die Grundlage aller anderen sozialen Verpflichtungen und sittlichen Beschränkungen des Stammes ist, erschöpft sich die Bedeutung der Phrathrien im allgemeinen in der durch sie angestrebten Regelung der Ehewahl.
In der weiteren Ausbildung des Heiratsklassensystems zeigt sich ein Bestreben, über die Verhütung des natürlichen und des Gruppeninzests hinauszugehen und Ehen zwischen entfernteren Gruppenverwandten zu verbieten, ähnlich wie es die katholische Kirche tat, indem sie die seit jeher für Geschwister geltenden Heiratsverbote auf die Vetternschaft ausdehnte und die geistlichen Verwandtschaftsgrade dazu erfand(10).
Es würde unserem Interesse wenig dienen, wenn wir in die außerordentlich verwickelten und ungeklärten Diskussionen über Herkunft und Bedeutung der Heiratsklassen, sowie über deren Verhältnis zum Totem tiefer eindringen wollten. Für unsere Zwecke genügt der Hinweis auf die große Sorgfalt, welche die Australier, sowie andere wilde Völker, zur Verhütung des Inzests aufwenden(11). Wir müssen sagen, diese Wilden sind selbst inzestempfindlicher als wir. Wahrscheinlich liegt ihnen die Versuchung näher, so daß sie eines ausgiebigeren Schutzes gegen dieselbe bedürfen.
Die »Vermeidungen« als weitere Schutzmittel gegen den Inzest.
Die Inzestscheu dieser Völker begnügt sich aber nicht mit der Aufrichtung der beschriebenen Institutionen, welche uns hauptsächlich gegen den Gruppeninzest gerichtet scheinen. Wir müssen eine Reihe von »Sitten« hinzunehmen, welche den individuellen Verkehr naher Verwandter in unserem Sinne behüten, die mit geradezu religiöser Strenge eingehalten werden, und deren Absicht uns kaum zweifelhaft erscheinen kann. Man kann diese Sitten oder Sittenverbote »Vermeidungen« (avoidances) heißen. Ihre Verbreitung geht weit über die australischen Totemvölker hinaus. Ich werde aber auch hier die Leser bitten müssen, mit einem fragmentarischen Ausschnitt aus dem reichen Material vorlieb zu nehmen.
Beispiele von Vermeidungen zwischen Geschwistern usw.
In Melanesien richten sich solche einschränkende Verbote gegen den Verkehr der Knaben mit Mutter und Schwestern. So z. B. verläßt auf Lepers Island, einer der Neuhebriden, der Knabe von einem bestimmten Alter an das mütterliche Heim und übersiedelt ins »Klubhaus«, wo er jetzt regelmäßig schläft und seine Mahlzeiten einnimmt. Er darf sein Heim zwar noch besuchen, um dort Nahrung zu verlangen; wenn aber seine Schwester zu Hause ist, muß er fortgehen, ehe er gegessen hat; ist keine Schwester anwesend, so darf er sich in der Nähe der Türe zum Essen niedersetzen. Begegnen sich Bruder und Schwester zufällig im Freien, so muß sie weglaufen oder sich seitwärts verstecken. Wenn der Knabe gewisse Fußspuren im Sande als die seiner Schwester erkennt, so wird er ihnen nicht folgen, ebensowenig wie sie den seinigen. Ja, er wird nicht einmal ihren Namen aussprechen und wird sich hüten, ein geläufiges Wort zu gebrauchen, wenn es als Bestandteil in ihrem Namen enthalten ist. Diese Vermeidung, die mit der Pubertätszeremonie beginnt, wird über das ganze Leben festgehalten. Die Zurückhaltung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn nimmt mit den Jahren zu, ist übrigens überwiegend auf Seite der Mutter. Wenn sie ihm etwas zu essen bringt, reicht sie es ihm nicht selbst, sondern stellt es vor ihn hin, sie redet ihn auch nicht vertraut an, sagt ihm – nach unserem Sprachgebrauch – nicht »Du«, sondern »Sie«. Ähnliche Gebräuche herrschen in Neukaledonien. Wenn Bruder und Schwester einander begegnen, so flüchtet sie ins Gebüsch, und er geht vorüber, ohne den Kopf nach ihr zu wenden(12).
Auf der Gazellen-Halbinsel in Newbritannien darf eine Schwester von ihrer Heirat an mit ihrem Bruder nicht mehr sprechen, sie spricht auch seinen Namen nicht mehr aus, sondern bezeichnet ihn mit einer Umschreibung(13).
Auf Neumecklenburg werden Vetter und Base (obwohl nicht jeder Art) von solchen Beschränkungen getroffen, ebenso aber Bruder und Schwester. Sie dürfen sich einander nicht nähern, einander nicht die Hand geben, keine Geschenke machen, dürfen aber in der Entfernung von einigen Schritten mit einander sprechen. Die Strafe für den Inzest mit der Schwester ist der Tod durch Erhängen(14).
Auf den Fiji-Inseln sind diese Vermeidungsregeln besonders strenge; sie betreffen dort nicht nur die blutsverwandte, sondern selbst die Gruppenschwester. Umso sonderbarer berührt es uns, wenn wir hören, daß diese Wilden heilige Orgien kennen, in denen eben diese verbotenen Verwandtschaftsgrade die geschlechtliche Vereinigung aufsuchen, wenn wir es nicht vorziehen, diesen Gegensatz zur Aufklärung des Verbots zu verwenden, anstatt uns über ihn zu verwundern(15).
Unter den Battas auf Sumatra betreffen die Vermeidungsgebote alle nahen Verwandtschaftsbeziehungen. Es wäre für einen Batta z. B. höchst anstößig, seine eigene Schwester zu einer Abendgesellschaft zu begleiten. Ein Battabruder wird sich in Gesellschaft seiner Schwester unbehaglich fühlen, selbst wenn noch andere Personen mitanwesend sind. Wenn der eine von ihnen ins Haus kommt, so zieht es der andere Teil vor, wegzugehen. Ein Vater wird auch nicht allein im Hause mit seiner Tochter bleiben, ebensowenig wie eine Mutter mit ihrem Sohne. Der holländische Missionär, der über diese Sitten berichtet, fügt hinzu, er müsse sie leider für sehr wohlbegründet halten. Es wird bei diesem Volke ohne weiters angenommen, daß ein Alleinsein eines Mannes mit einer Frau zu ungehöriger Intimität führen werde, und da sie vom Verkehr naher Blutsverwandter alle möglichen Strafen und üble Folgen erwarten, tuen sie recht daran, allen Versuchungen durch solche Verbote auszuweichen(16).
Bei den Barongos an der Delagoa-Bucht in Afrika gelten merkwürdigerweise die strengsten Vorsichten der Schwägerin, der Frau des Bruders der eigenen Frau. Wenn ein Mann diese ihm gefährliche Person irgendwo begegnet, so weicht er ihr sorgsam aus. Er wagt es nicht, aus einer Schüssel mit ihr zu essen, er spricht sie nur zagend an, getraut sich nicht in ihre Hütte einzutreten und begrüßt sie nur mit zitternder Stimme(17).
Bei den Akamba (oder Wakamba) in Britisch-Ostafrika herrscht ein Gebot der Vermeidung, welches man häufiger anzutreffen erwartet hätte. Ein Mädchen muß zwischen ihrer Pubertät und ihrer Verheiratung dem eigenen Vater sorgfältig ausweichen. Sie versteckt sich, wenn sie ihn auf der Straße begegnet, sie versucht es niemals, sich neben ihn hinzusetzen und benimmt sich so bis zu dem Momente ihrer Verlobung. Von der Heirat an ist ihrem Verkehr mit dem Vater kein Hindernis mehr in den Weg gelegt(18).
Die Vermeidung der Schwiegermutter.
Die bei weitem verbreitetste, strengste und auch für zivilisierte Völker interessanteste Vermeidung ist die, welche den Verkehr zwischen einem Manne und seiner Schwiegermutter einschränkt. Sie ist in Australien ganz allgemein, ist aber auch bei den melanesischen, polynesischen und den Negervölkern Afrikas in Kraft, soweit die Spuren des Totemismus und der Gruppenverwandtschaft reichen, und wahrscheinlich noch darüber hinaus. Bei manchen dieser Völker bestehen ähnliche Verbote gegen den harmlosen Verkehr einer Frau mit ihrem Schwiegervater, doch sind sie lange nicht so konstant und so ernsthaft. In vereinzelten Fällen werden beide Schwiegereltern Gegenstand der Vermeidung.
Da wir uns weniger für die ethnographische Verbreitung als für den Inhalt und die Absicht der Schwiegermuttervermeidung interessieren, werde ich mich auch hier auf die Wiedergabe weniger Beispiele beschränken.
Auf den Banks-Inseln sind diese Gebote sehr strenge und peinlich genau. Ein Mann wird die Nähe seiner Schwiegermutter meiden, wie sie die seinige. Wenn sie einander zufällig auf einem Pfade begegnen, so tritt das Weib zur Seite und wendet ihm den Rücken, bis er vorüber ist, oder er tut das nämliche.
In Vanna Lava (Port Patteson) wird ein Mann nicht einmal hinter seiner Schwiegermutter am Strande einhergehen, ehe die steigende Flut nicht die Spur ihrer Fußtritte im Sande weggeschwemmt hat. Doch dürfen sie aus einer gewissen Entfernung mit einander sprechen. Es ist ganz ausgeschlossen, daß er je den Namen seiner Schwiegermutter ausspricht oder sie den ihres Schwiegersohnes(19).
Auf den Salomons-Inseln darf der Mann von seiner Heirat an seine Schwiegermutter weder sehen noch mit ihr sprechen. Wenn er ihr begegnet, tut er nicht, als ob er sie kennen würde, sondern läuft, so schnell er kann, davon, um sich zu verstecken(20).
Bei den Zulukaffern verlangt die Sitte, daß ein Mann sich seiner Schwiegermutter schäme, daß er alles tue, um ihrer Gesellschaft auszuweichen. Er tritt nicht in die Hütte ein, in der sie sich befindet, und wenn sie einander begegnen, geht er oder sie bei Seite, etwa, indem sie sich hinter einem Busch versteckt, während er seinen Schild vors Gesicht hält. Wenn sie einander nicht ausweichen können, und das Weib nichts anderes hat, um sich zu verhüllen, so bindet sie wenigstens ein Grasbüschel um ihren Kopf, damit dem Zeremoniell Genüge getan sei. Der Verkehr zwischen ihnen muß entweder durch eine dritte Person besorgt werden, oder sie dürfen aus einiger Entfernung einander zuschreien, wenn sie irgend eine Schranke, z. B. die Einfassung des Kraals zwischen sich haben. Keiner von ihnen darf den Namen des anderen in den Mund nehmen(21).
Bei den Basoga, einem Negerstamme im Quellgebiete des Nils, darf ein Mann zu seiner Schwiegermutter nur sprechen, wenn sie in einem anderen Raume des Hauses ist und von ihm nicht gesehen wird. Dieses Volk verabscheut übrigens den Inzest so sehr, daß es ihn selbst bei Haustieren nicht straflos läßt(22).
Verschiedene Deutungen der Schwiegermuttervermeidung.
Während Absicht und Bedeutung der anderen Vermeidungen zwischen nahen Verwandten einem Zweifel nicht unterliegen, so daß sie von allen Beobachtern als Schutzmaßregeln gegen den Inzest aufgefaßt werden, haben die Verbote, welche den Verkehr mit der Schwiegermutter betreffen, von manchen Seiten eine andere Deutung erfahren. Es erschien mit Recht unverständlich, daß alle diese Völker so große Angst vor der Versuchung zeigen sollten, die dem Manne in der Gestalt einer älteren Frau entgegentritt, welche seine Mutter sein könnte, ohne es wirklich zu sein(23).
Diese Einwendung wurde auch gegen die Auffassung von Fison erhoben, der darauf aufmerksam machte, daß gewisse Heiratsklassensysteme darin eine Lücke zeigen, daß sie die Ehe zwischen einem Manne und seiner Schwiegermutter nicht theoretisch unmöglich machen; es hätte darum einer besonderen Sicherung gegen diese Möglichkeit bedurft.
Sir J. Lubbock führt in seinem Werke »Origin of civilisation« das Benehmen der Schwiegermutter gegen den Schwiegersohn auf die einstige Raubehe (marriage by capture) zurück. »Solange der Frauenraub wirklich bestand, wird auch die Entrüstung der Eltern ernsthaft genug gewesen sein. Als von dieser Form der Ehe nur mehr Symbole übrig waren, wurde auch die Entrüstung der Eltern symbolisiert, und diese Sitte hielt noch an, nachdem ihre Herkunft vergessen war.« Es wird Crawley leicht zu zeigen, wie wenig dieser Erklärungsversuch die Einzelheiten der tatsächlichen Beobachtung deckt.
E. B. Tylor meint, die Behandlung des Schwiegersohnes von seiten der Schwiegermutter sei nichts anderes als eine Form der »Nichtanerkennung« (cutting) von seiten der Familie der Frau. Der Mann gilt als Fremder, und dies so lange, bis das erste Kind geboren wird. Allein abgesehen von den Fällen, in denen letztere Bedingung das Verbot nicht aufhebt, unterliegt diese Erklärung dem Einwand, daß sie die Orientierung der Sitte auf das Verhältnis zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter nicht aufhellt, also den geschlechtlichen Faktor übersieht, und daß sie dem Moment des geradezu heiligen Abscheus nicht Rechnung trägt, welcher in den Vermeidungsgeboten zum Ausdrucke kommt(24).
Eine Zulufrau, die nach der Begründung des Verbots gefragt wurde, gab die vom Zartgefühl getragene Antwort: Es ist nicht recht, daß er die Brüste sehen soll, die seine Frau gesäugt haben(25).
Psychoanalytische Auffassung des Verhältnisses zur Schwiegermutter.
Es ist bekannt, daß das Verhältnis zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter auch bei den zivilisierten Völkern zu den heikeln Seiten der Familienorganisation gehört. Es bestehen in der Gesellschaft der weißen Völker Europas und Amerikas zwar keine Vermeidungsgebote mehr für die beiden, aber es würde oft viel Streit und Unlust vermieden, wenn solche noch als Sitte bestünden und nicht von den einzelnen Individuen wieder aufgerichtet werden müßten. Manchem Europäer mag es als ein Akt hoher Weisheit erscheinen, daß die wilden Völker durch ihre Vermeidungsgebote die Herstellung eines Einvernehmens zwischen den beiden so nahe verwandt gewordenen Personen von vorneherein ausgeschlossen haben. Es ist kaum zweifelhaft, daß in der psychologischen Situation von Schwiegermutter und Schwiegersohn etwas enthalten ist, was die Feindseligkeit zwischen ihnen befördert und ihr Zusammenleben erschwert. Daß der Witz der zivilisierten Völker gerade das Schwiegermutterthema so gerne zum Objekt nimmt, scheint mir darauf hinzudeuten, daß die Gefühlsrelationen zwischen den beiden außerdem Komponenten führen, die in scharfem Gegensatz zu einander stehen. Ich meine, daß dies Verhältnis eigentlich ein »ambivalentes«, aus widerstreitenden, zärtlichen und feindseligen Regungen zusammengesetztes ist.
Ein gewisser Anteil dieser Regungen liegt klar zu Tage: Von seiten der Schwiegermutter die Abneigung, auf den Besitz der Tochter zu verzichten, das Mißtrauen gegen den Fremden, dem sie überantwortet ist, die Tendenz, eine herrschende Position zu behaupten, in die sie sich im eigenen Hause eingelebt hatte. Von Seiten des Mannes die Entschlossenheit, sich keinem fremden Willen mehr unterzuordnen, die Eifersucht gegen alle Personen, die vor ihm die Zärtlichkeit seines Weibes besaßen, und – last not least – die Abneigung dagegen, sich in der Illusion der Sexualüberschätzung stören zu lassen. Eine solche Störung geht wohl zumeist von der Person der Schwiegermutter aus, die ihn durch so viele gemeinsame Züge an die Tochter mahnt und doch all der Reize der Jugend, Schönheit und psychischen Frische entbehrt, welche ihm seine Frau wertvoll machen.
Unbewußte inzestuöse Anteile an dieser Beziehung.
Die Kenntnis versteckter Seelenregungen, welche die psychoanalytische Untersuchung einzelner Menschen verleiht, gestattet uns, zu diesen Motiven noch andere hinzuzufügen. Wo die psychosexuellen Bedürfnisse der Frau in der Ehe und im Familienleben befriedigt werden sollen, da droht ihr immer die Gefahr der Unbefriedigung durch den frühzeitigen Ablauf der ehelichen Beziehung und die Ereignislosigkeit in ihrem Gefühlsleben. Die alternde Mutter schützt sich davor durch Einfühlung in ihre Kinder, Identifizierung mit ihnen, indem sie deren gefühlsbetonte Erlebnisse zu den eigenen macht. Man sagt, die Eltern bleiben jung mit ihren Kindern; es ist dies in der Tat einer der wertvollsten seelischen Gewinste, den Eltern aus ihren Kindern ziehen. Im Falle der Kinderlosigkeit entfällt so eine der besten Möglichkeiten, die für die eigene Ehe erforderliche Resignation zu ertragen. Diese Einfühlung in die Tochter geht bei der Mutter leicht so weit, daß sie sich in den von ihr geliebten Mann – mitverliebt, was in grellen Fällen, infolge des heftigen seelischen Sträubens gegen diese Gefühlsanlage zu schweren Formen neurotischer Erkrankung führt. Eine Tendenz zu solcher Verliebtheit ist bei der Schwiegermutter jedenfalls sehr häufig, und entweder diese selbst oder die ihr entgegenarbeitende Strebung schließen sich dem Gewühle der mit einander ringenden Kräfte in der Seele der Schwiegermutter an. Recht häufig wird gerade die unzärtliche, sadistische Komponente der Liebeserregung dem Schwiegersohne zugewendet, um die verpönte, zärtliche, umso sicherer zu unterdrücken.
Für den Mann kompliziert sich das Verhältnis zur Schwiegermutter durch ähnliche Regungen, die aber aus anderen Quellen stammen. Der Weg der Objektwahl hat ihn regulärerweise über das Bild seiner Mutter, vielleicht noch seiner Schwester, zu seinem Liebesobjekt geführt; infolge der Inzestschranke glitt seine Vorliebe von beiden teueren Personen seiner Kindheit ab, um bei einem fremden Objekt nach deren Ebenbild zu landen. An Stelle der eigenen Mutter und Mutter seiner Schwester sieht er nun die Schwiegermutter treten; es entwickelt sich eine Tendenz, in die vorzeitliche Wahl zurückzusinken; aber dieser widerstrebt alles in ihm. Seine Inzestscheu fordert, daß er an die Genealogie seiner Liebeswahl nicht erinnert werde; die Aktualität der Schwiegermutter, die er nicht wie die Mutter von jeher gekannt hat, so daß ihr Bild im Unbewußten unverändert bewahrt werden konnte, macht ihm die Ablehnung leicht. Ein besonderer Zusatz von Reizbarkeit und Gehässigkeit zur Gefühlsmischung läßt uns vermuten, daß die Schwiegermutter tatsächlich eine Inzestversuchung für den Schwiegersohn darstellt, sowie es anderseits nicht selten vorkommt, daß sich ein Mann manifesterweise zunächst in seine spätere Schwiegermutter verliebt, ehe seine Neigung auf deren Tochter übergeht.
Ich sehe keine Abhaltung von der Annahme, daß es gerade dieser, der inzestuöse Faktor des Verhältnisses ist, welcher die Vermeidung zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter bei den Wilden motiviert. Wir würden also in der Aufklärung der so streng gehandhabten »Vermeidungen« dieser primitiven Völker die ursprünglich von Fison geäußerte Meinung bevorzugen, die in diesen Vorschriften wiederum nur einen Schutz gegen den möglichen Inzest erblickt. Das nämliche würde für alle anderen Vermeidungen zwischen Bluts- oder Heiratsverwandten gelten. Nur bliebe der Unterschied, daß im ersteren Falle der Inzest ein direkter ist, die Verhütungsabsicht eine bewußte sein könnte; im anderen Falle, der das Schwiegermutterverhältnis mit einschließt, wäre der Inzest eine Phantasieversuchung, ein durch unbewußte Zwischenglieder vermittelter.
Die Inzestscheu der Wilden ist ein infantiler Zug, der sich beim Neurotiker wiederfindet.
Wir haben in den vorstehenden Ausführungen wenig Gelegenheit gehabt zu zeigen, daß die Tatsachen der Völkerpsychologie durch die Anwendung der psychoanalytischen Betrachtung in neuem Verständnis gesehen werden können, denn die Inzestscheu der Wilden ist längst als solche erkannt worden, und bedarf keiner weiteren Deutung. Was wir zu ihrer Würdigung hinzufügen können, ist die Aussage, sie sei ein exquisit infantiler Zug und eine auffällige Übereinstimmung mit dem seelischen Leben des Neurotikers. Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, daß die erste sexuelle Objektwahl des Knaben eine inzestuöse ist, den verpönten Objekten, Mutter und Schwester, gilt, und hat uns auch die Wege kennen gelehrt, auf denen sich der Heranwachsende von der Anziehung des Inzests frei macht. Der Neurotiker repräsentiert uns aber regelmäßig ein Stück des psychischen Infantilismus, er hat es entweder nicht vermocht, sich von den kindlichen Verhältnissen der Psychosexualität zu befreien, oder er ist zu ihnen zurückgekehrt. (Entwicklungshemmung und Regression.) In seinem unbewußten Seelenleben spielen darum noch immer oder wiederum die inzestuösen Fixierungen der Libido eine Hauptrolle. Wir sind dahin gekommen, das vom Inzestverlangen beherrschte Verhältnis zu den Eltern für den Kernkomplex der Neurose zu erklären. Die Aufdeckung dieser Bedeutung des Inzests für die Neurose stößt natürlich auf den allgemeinsten Unglauben der Erwachsenen und Normalen; dieselbe Ablehnung wird z. B. auch den Arbeiten von Otto Rank entgegentreten, die in immer größerem Ausmaß dartun, wie sehr das Inzestthema im Mittelpunkte des dichterischen Interesses steht und in ungezählten Variationen und Entstellungen der Poesie den Stoff liefert. Wir sind genötigt zu glauben, daß solche Ablehnung vor allem ein Produkt der tiefen Abneigung des Menschen gegen seine einstigen, seither der Verdrängung verfallenen Inzestwünsche ist. Es ist uns darum nicht unwichtig, an den wilden Völkern zeigen zu können, daß sie die zur späteren Unbewußtheit bestimmten Inzestwünsche des Menschen noch als bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehrmaßregeln für würdig halten.
(1) Auf dem Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg 1910. Der mit dem Vortrag Betraute war der seither verstorbene, hochbegabte C. Honegger. Jung selbst und seine Schüler (Nelken, Spielrein) haben die damals zuerst berührten Gesichtspunkte seither in anderen Arbeiten weiter verfolgt. (Vgl. Jung »Wandlungen und Symbole der Libido,« Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Band III, 1911).
(2) Frazer, Totemism and Exogamy, Bd. I, p. 53. The totem bond is stronger than the bond of blood or family in the modern sense.
(3) Dieser knappste Extrakt des totemistischen Systems kann nicht ohne Erläuterungen und Einschränkungen bleiben: Der Name Totem ist in der Form Totam 1791 durch den Engländer J. Long von den Rothäuten Nordamerikas übernommen worden. Der Gegenstand selbst hat allmählich in der Wissenschaft großes Interesse gefunden und eine reichhaltige Literatur hervorgerufen, aus welcher ich als Hauptwerke das vierbändige Buch von J. G. Frazer, »Totemism and Exogamy, 1910« und die Bücher und Schriften von Andrew Lang (»The secret of the Totem, 1905«) hervorhebe. Das Verdienst, die Bedeutung des Totemismus für die Urgeschichte der Menschheit erkannt zu haben, gebührt dem Schotten J. Ferguson Mc Lennan (1869–70). Totemistische Institutionen wurden oder werden heute noch außer bei den Australiern bei den Indianern Nordamerikas beobachtet, ferner bei den Völkern der ozeanischen Inselwelt, in Ostindien und in einem großen Teil von Afrika. Manche sonst schwer zu deutende Spuren und Überbleibsel lassen aber erschließen, daß der Totemismus einst auch bei den arischen und semitischen Urvölkern Europas bestanden hat, so daß viele Forscher geneigt sind, eine notwendige und überall durchschrittene Phase der menschlichen Entwicklung in ihm zu erkennen.
Wie kamen die vorzeitlichen Menschen nur dazu, sich einen Totem beizulegen, d. h. die Abstammung von dem oder jenem Tier zur Grundlage ihrer sozialen Verpflichtungen und, wie wir hören werden, auch ihrer sexuellen Beschränkungen zu machen? Es gibt darüber zahlreiche Theorien, deren Übersicht der deutsche Leser in Wundt's Völkerpsychologie (Bd. II, Mythus und Religion) finden kann, aber keine Einigung. Ich verspreche, das Problem des Totemismus demnächst zum Gegenstand einer besonderen Studie zu machen, in welcher dessen Lösung durch Anwendung psychoanalytischer Denkweise versucht werden soll.
Aber nicht nur, daß die Theorie des Totemismus strittig ist, auch die Tatsachen desselben sind kaum in allgemeinen Sätzen auszusprechen, wie oben versucht wurde. Es gibt kaum eine Behauptung, zu welcher man nicht Ausnahmen oder Widersprüche hinzufügen müßte. Man darf aber nicht vergessen, daß auch die primitivsten und konservativsten Völker in gewissem Sinne alte Völker sind und eine lange Zeit hinter sich haben, in welcher das Ursprüngliche bei ihnen viel Entwicklung und Entstellung erfahren hat. So findet man den Totemismus heute bei den Völkern, die ihn noch zeigen, in den mannigfaltigsten Stadien des Verfalls, der Abbröckelung, des Überganges zu anderen sozialen und religiösen Institutionen, oder aber in stationären Ausgestaltungen, die sich weit genug von seinem ursprünglichen Wesen entfernt haben mögen. Die Schwierigkeit liegt dann darin, daß es nicht ganz leicht ist zu entscheiden, was an den aktuellen Verhältnissen als getreues Abbild der sinnvollen Vergangenheit, was als sekundäre Entstellung derselben gefaßt werden darf.
(4) Frazer, l. c. Bd. I., p. 54.
(5) Dem Vater, der Känguruh ist, wird aber – wenigstens durch dieses Verbot – der Inzest mit seinen Töchtern, die Emu sind, frei gelassen. Bei väterlicher Vererbung des Totem wäre der Vater Känguruh, die Kinder gleichfalls Känguruh, dem Vater würde dann der Inzest mit den Töchtern verboten sein, dem Sohne der Inzest mit der Mutter freibleiben. Diese Erfolge der Totemverbote ergeben einen Hinweis darauf, daß die mütterliche Vererbung älter ist als die väterliche, denn es liegt Grund vor anzunehmen, daß die Totemverbote vor allem gegen die inzestuösen Gelüste des Sohnes gerichtet sind.
(6) Sowie der meisten Totemvölker.
(7) 2. Auflage, 1902.
(8) The Native Tribes of Central Australia, London 1899.
(9) Die Anzahl der Totem ist willkürlich gewählt.
(10) Artikel Totemism in Encyclopedia Britannica. Elfte Auflage, 1911. (A. Lang).
(11) Auf diesen Punkt hat erst kürzlich Storfer in seiner Studie: »Zur Sonderstellung des Vatermordes. Schriften zur angewandten Seelenkunde«, 12. Heft, Wien, 1911, nachdrücklich aufmerksam gemacht.
(12) R. H. Codrington, »The Melanesians« bei Frazer, »Totemism and Exogamy«, Bd. II., p. 77.
(13) Frazer, l. c. II., p. 124, nach Kleintitschen: Die Küstenbewohner der Gazellen-Halbinsel.
(14) Frazer, l. c. II., pag. 131, nach P. G. Peckel in Anthropos 1908.
(15) Frazer, l. c. II., pag. 147, nach Rev. L. Fison.
(16) Frazer, l. c., II., pag. 189.
(17) Frazer, l. c. II., pag. 388, nach Junod.
(18) Frazer, l. c. II., pag. 424.
(19) Frazer, l. c. II., pag. 76.
(20) Frazer, l. c. II., pag. 117, nach C. Ribbe: Zwei Jahre unter den Kannibalen der Salomons-Inseln, 1905.
(21) Frazer, l. c. II., pag. 385.
(22) Frazer, l. c. II., pag. 461.
(23) V. Crawley: The mystic rose. London, 1902, pag. 405.
(24) Crawley, l. c., pag. 407.
(25) Crawley, l. c., pag. 401, nach Leslie: Among the Zulus and Amatongas. 1875.
Anmerkungen zur Transkription:
Im folgenden werden alle geänderten Textstellen angeführt, wobei jeweils zuerst die Stelle wie im Original, danach die geänderte Stelle steht.
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